Wehrmachtsdeserteure und ihre Unterstützer*innen in Innsbruck. Ein brisantes Thema. Eine Leerstelle in der Erinnerungskultur. Und ein schwerer Stein, der diese Leerstelle füllt. „desertieren. Ein Gedenk-Einsatz“ ist ein Projekt des Tiroler Konzeptkünstlers Richard Schwarz, bekannt als islandrabe, der mit der Aktion eine Leerstelle in der Erinnerungskultur in den Blick nimmt: Deserteure der Wehrmacht.
Es gibt viele Fragen und vielleicht nicht auf alle Fragen befriedigende oder gar letztgültige Antworten. Die Fragen zu stellen und die Unsicherheit, die Uneindeutigkeit und vielleicht auch den damit verbundenen Schmerz auszuhalten, ist Absicht und Ziel von „desertieren. Ein Gedenk-Einsatz“.
Teil des Gedenk-Einsatzes ist auch eine Reihe von Radiofeatures, in denen Ágnes Czingulszki mit Beteiligten und Fachleuten die unterschiedlichsten Facetten des in der Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend ignorierten, oft sogar tabuisierten und jedenfalls brisanten Themas beleuchtet.
So kommt unter anderem Historikerin Christina Müller zu Wort, die 2016 als erste Person den Paschberg mit Hilfe von Zeitzeug*innengesprächen und Archivrecherchen als Hinrichtungsstätte wissenschaftlich belegen konnte. Historiker Peter Pirker gibt einen umfassenden Überblick über Deserteure und der Wehrmachtsjustiz in Tirol. Einen weiteren Blick auf die Thematik gewährt der pensionierte Militärkommandant von Tirol, Herbert Bauer. Und auch Zeitzeug*innengespräche und weitere Interviews mit Angehörigen und dem vierköpfigen Team rundum Richard Schwarz ergeben ein möglichst breites Bild der Materie und der damit verbundenen Auseinandersetzung.
Die Sendungen hört ihr jeden 2. und 4. Sonntag von 11 bis 12 Uhr.
Die Episoden werden auch jeden 1. und 3. Samstag von 19 bis 20 Uhr nochmal wiederholt.
Episodenübersicht:
Episode 1: Eine Bestandaufnahme
In der 1. Episode von „Erinnerungsstatus kompliziert: Deserteure der Wehrmacht und ihre Unterstützer und Unterstützerinnen“, nimmt euch das Team rundum Künstler Richard Schwarz mit auf eine Reise in die Vergangenheit.
Es beleuchtet das gesellschaftliche Tabuthema „Desertion“ und will wissen, wieso es so schwierig ist, einen Erinnerungskonsens in der Gesellschaft für jene zu finden, die im 2. Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht desertiert und bei ihrer Festnahme hingerichtet worden sind.
Zu Wort kommt in dieser Episode der Historiker Peter Pirker, der eine der umfassendsten Forschungen für Tirol, Vorarlberg und Südtirol zum Thema verfasst hat. Er erklärt, wieso Deserteure sich dazu entschieden haben, den Krieg zu verlassen, wer die Innsbrucker Deserteure waren und wie sich die Erinnerungskultur in den letzten Jahren entwickelt hat.
Im Anschluss hört ihr das Gespräch zwischen den Teammitgliedern Richard Schwarz, Irene Heisz, Johannes Felder und Ágnes Czingulszki die im aufgelassenen Steinbruch am Paschnberg, also an jenem Ort, an dem die Wehrmachtsdeserteure hingerichtet wurden, über die Aspekte der Erinnerungsmöglichkeiten und ihren eignen Zugang zum Thema reden.
Weiterführende Information zum Projekt von Richard Schwarz „Desertieren. Ein Gedenkeinsatz“, findet ihr hier.
Die Musik stammt von Benedikt Unterberger, Sprecher und Aufnahmeleiter ist Johannes Felder. Gestaltung des Audiofeatures: Ágnes Czingulszki
In der 2. Episode des Audiofeatures “Erinnerungsstatus kompliziert” nehmen wir euch mit auf eine Wanderung auf den Paschberg. Anstatt des gemütlichen Spaziergangs im Naherholungsgebiet ist dies eine Reise durch die Zeit. Ihr erfahrt mehr darüber, wie sich ein aufgelassener Steinbruch Jahrzehnte nach dem Ende des 2. Weltkriegs als Hinrichtungsstätte der Wehrmacht identifizieren ließ und wie sich die Spurensuche nach dieser historischen Gegebenheiten entwickelte.
Zeithistorikerin Christina Müller erklärt in einem Gespräch, wie sie auf den Spuren eines Gerüchts als erste über die Geschehnisse am Paschberg forschte und welchen Hürden sie begegnet ist. Außerdem hört ihr Ausschnitte aus jenen Gesprächen, die Christina Müller während ihrer Forschungsarbeit mit den mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen und Zeitzeuginnen geführt hat. Schauspielerin Lisa Hörtnagl lieh den Zeitzeuginnen Elisabeth Lener, Ruth Ebner und Gertrud Brunner ihre Stimme, Schauspieler Günther Lieder sprach die Stimmen der Zeitzeugen Adolf Mölschl und Franz Sillober ein.
Zu Wort kommen in dieser Episode auch Marthin Schönherr vom Blog paschberg.blogspot.com, der über den Paschberg und seinen Bezug zu ihm erzählt, bzw. Helmut Muigg vom Bund der Sozialdemokratischen FreiheitskänpferInnen Tirol, der die Umstände um die archäeologischen Ausgrabungen vor Ort beleuchtet.
Weiterführende Information zum Projekt von Richard Schwarz “desertieren. Ein Gedenkeinsatz”, findet ihr hier.
In dieser Episode schauen wir uns die Verflechtungen der Pradler Deserteursgruppe rundum Ernst Federspiel an. Durch den Raubüberfall auf ein Rauchwarenladen im Jahr 1944 flog die Deserteursgruppe auf. Eine Person kam bei der Festnahme ums Leben, eine andere wurde verletzt, eine dritte wegen Fahnenflucht hingerichtet. Weitere Personen kamen ins Gefängnis. Dabei spielte auch Karl Niederwanger – ein widersprüchlicher Charakter in der Widerstandsgruppe – eine zentrale Rolle. Erst half er der Gruppe, um an Lebensmittel zu kommen, später verriet er jene, die ihnen halfen. Kriminalpolizisten und weitere Helfer*innen wurden folgend von der Gestapo festgenommen. Ein Fall, der durch viele Fäden verschiedene Widerständler*innen miteinander verbindet.
Sprecher*innen: Johannes Felder, Lisa Hörtnagl und Günther Lieder.
Die Musik komponierte Benedikt Unterberger. Aufnahmeleiter der Musik war Johannes Felder. Die Räumlichkeiten für die Aufnahmen haben das “Freie Radio Innsbruck – FREIRAD” und “Radio Orange 94.0 – das Freie Radio Wien” zur Verfügung gestellt. Die Unterlagen zur Recherche kamen vom Bund der Sozialdemokratischen FreiheitskämpferInnen Tirol, dem Tiroler Landesarchiv und den wissenschaftlichen Arbeiten von Christina Müller und Peter Pirker.
Ein großer Dank geht an die Interviewpartner Toni Walder und Peter Hellensteiner vom Fachzirkel der Tiroler Landespolizeidirektion für “Exekutivgeschichte und Traditionspflege und Historisches Archiv” und dem pensionierten Juristen Harald Stockhammer. Sie alle zusammen haben Querverweise der Geschichte aufgezeigt und erklärt, was alles aus Akten herauszulesen ist.
Und noch ein Hinweis am Rande: Die drei Männer waren auch in einem weiteren spannenden Projekt des 2. Weltkriegs involviert, das von der Flucht zwei jüdischer Mädchen in Tirol handelt. Im Tiroler Landhaus 1 könnt ihr in einer Ausstellung mit dem Titel “Brechen wir aus” mehr von der Fluchtgeschichte des jüdischen Mädchens Leokadia Justman und ihrer Freundin erfahren.
Der Wehrmachtsdeserteur Ernst Federspiel konnte gute 2 Jahre lang auf der Flucht sein, weil er Helfer*innen in seiner Umgebung hatte, die ihm das Untertauchen ermöglichten. Anhand von den wissenschaftlichen Erkenntnissen über ihn und seiner abenteuerlichen Fluchtgeschichte, rekonstruieren wir einen Teil von seinem Netzwerk und was es bedeutet hat, einen Deserteur zu helfen und zu verstecken. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Elisabeth Federspiel, der Mutter von Ernst Federspiel und anderen Frauen, die den jungen Mann bei seiner Flucht halfen.
Zu Hilfe kommen uns in dieser Episode Historikerin Chrsitina Müller, Historiker Peter Pirker und der pensionierte Jurist Harald Stockhammer, die das Bild vom persönlichen Schicksal des kommunistisch eingestellten Federspiel, über die Justiz der Zeit, bis hin zur Auffassung seiner Person und seiner Helferinnen nach dem Krieg erörtern.
Mit Zitaten aus Originaldokumenten und Ausschnitten aus dem Zeitzeuginnen-Interview mit der Tochter Ernst Federspiels, Hannelore Flatscher, ergibt sich ein verzwicktes Geflecht, das uns zeigt, dass Schicksale und Geschichten von allen verschieden erzählt werden können.
Originaldokumente:
Sprecher*innen: Lisa Hörtnagl, Günther Lieder und Johannes Felder
Herbert Bauer war sein Leben lang Soldat. Der Generalmajor in Ruhe war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2020 Militärkommandant von Tirol. Seine Sicht auf Desertion, auf Soldaten, die die Truppe unerlaubt verlassen, ist daher vor allem eine Militärische.
Mit ihm reden wir nicht nur darüber, was es für die Kameraden bedeutet, wenn jemand die Truppe unerlaubt verlässt, sondern auch darüber, wie Desertion aktuell in Österreich bewertet wird, bzw. welche Möglichkeiten Soldaten haben, die glauben, Befehle verstoßen gegen das Gesetz oder sind mit ihrem Gewissen unvereinbar. Auch der Angriffskrieg Russlands und die gesellschaftliche Aufarbeitung der Geschichte von Wehrmachtsdeserteuren in Österreich bekommt Platz in diesem Gespräch.
Detailinfos folgen zeitnah zur Ausstrahlung
Hintergrund:
Das Projekt wurde im Rahmen der „gedenk_potenziale“ gestaltet. Die Stadt Innsbruck lädt dafür jährlich im Rahmen einer offenen Ausschreibung Künstler*innen ein, Projekte zu entwickeln, die das Erinnern an den Nationalsozialismus mit den politischen und gesellschaftspolitischen Fragen, die sich uns heute stellen, verbinden.
Als Teil des Projekts „desertieren. Ein Gedenk-Einsatz“ hat Ágnes Czingulszki eine Reihe von Radiofeatures produziert, in denen sie mit Beteiligten und Fachleuten die unterschiedlichsten Facetten des in der Öffentlichkeit nach wie vor weitgehend ignorierten, oft sogar tabuisierten und jedenfalls brisanten Themas „Desertion“ beleuchtet.
Ab 11. Mai zweiwöchentlich am 2. und 4. Sonntag von 11 bis 12 Uhr
und in der Wiederholung am 1. und 3. Samstag von 19 bis 20 Uhr
Passend dazu
Auch zum Projekt gedenk_potenziale, könnt ihr auch einen KulturTon in Kollaboration mit dem Stadtarchiv hören.
Dieser läuft am 09.05. von 18:30 bis 19:00
Und nach Erstausstrahlung ist er hier zu hören.