Als Nick Neureiter und Bernhard Friesacher im Dezember 2020 das erste Mal vor dem Landestheather in Innsbruck zelteten, konnten Sie wohl nur vage erahnen, welchen Stein sie da ins Rollen bringen würden. Fragt man heute warum sie sich entschlossen, ein Wochenende bei Minusgraden vor den Toren des Theaters zu protest-campieren, dann wird der sonst so gelassene Blick ungewohnt ernst.
Es geht darum, jener Wut Ausdruck zu verleihen, welche so viele in Österreich und Europa lebende Menschen verspüren und teilen. Die Wut über die seit Jahren immer weiter andauernde und sich zuspitzende humanitäre Katastrophe an den Außengrenzen der Europäischen Union. Dort werden Menschen, unter unwürdigsten, rechtswidrigen und zu tiefst traumatisierenden Bedingungen, gewaltsam festgehalten.1,2
Der Winter trifft diese Menschen besonders hart, sie sind gezwungen in improvisierten Zelten, ohne sanitäre Anlagen und geeigneter Ausrüstung, bei Minusgraden zu überleben. Sie werden systematisch daran gehindert ihr Menschenrecht auf Asyl in Europa zu erhalten.3
Diese Menschen fliehen vor Krieg, Verfolgung und Tot und müssen nun in europäischen Lagern ausharren, wo Ihnen genau diese Dinge wiederfahren.
Es geht bei dem Protest auch darum, eine schon viel zu lang anhaltende Ohnmacht zu brechen. Die Ohnmacht helfen zu wollen, aber nicht helfen zu können, weil die Regierung dies verhindert und stattdessen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit fragwürdigen Wörtern wie Pull-Effekt versucht zu legitimieren.4
Dass diese dabei ihren Anspruch auf Repräsentation nur zweifelhaft gerecht wird, hat sich nicht erst seit dem verheerenden Brand des Lagers Moria gezeigt.5
Alleine im deutschsprachigen Raum haben sich weit über hundert Städte und Gemeinden für die sofortige Aufnahme von Menschen aus Moria bereiterklärt.6
Auch die Stadt Innsbruck hat sich mehrmals für eine Aufnahme angeboten.7
Wie kann es also sein, dass uns das Recht zu Helfen verwehrt wird?
Bernhard und Nick wollten diese Missstände sichtbar machen und formulieren. Vor allem aber auch sich mit den Menschen in den Lagern solidarisieren. So kam es, dass am frühen Morgen des 20.12.2020 Pasant*innen zum ersten Mal auf die zwei in Yoga vertieften Aktivisten trafen; hinter ihnen zwei Zelte, vor ihnen mit Kreide gezeichnete bunte Buchstaben auf dem Pflaster: Ein Wochenende für Moria. Dieses Bild sollte sich wiederholen, aus noch ein wurden mittlerweile zehn Wochenenden für Moria [Anm. der Text wurde Mitte Feber 2021 verfasst].
Und heute, nach über zwei Monaten des Ausharrens, stehen jedes Wochenende hunderte Zelte, in fast allen Landeshaupstädten Österreichs und selbst über dessen Grenzen hinaus. Es ist berührend zu sehen, wieviele Menschen nicht nur vorbei gehen, nicht nur nachgefragen, nicht nur schauen, sondern aktiv werden und helfen wollen. Es ist kein Zufall, dass aus sich fremden Passantinnen nun Aktivistinnen wurden, welche heute gemeinsam die Oganisation eines immer größeren kulturellen Rahmens voran treiben. Gespräche, Vorträge, Photo- und Filmdokumentationen, Auftritte von Künstler*innen, Musik, Poetry-Slams gehören Mittlerweile zum Samstag-Abend Programm8, welches immer wieder thematisieren wird, welche untragbaren Missstände von der Euopäischen Union verantwortet werden.
Kleine Steine können Große ins Rollen bringen. Wir fordern deshalb die Aufnahme von 100 Familien in Österreich, welche derzeit in Lagern festgehalten sind und eine sofortige Humanisierung der Lage. Wenn Österreich als Beispiel voran geht, werden andere Staaten folgen müssen, denn es stehen nicht mehr oder minder als die Grundwerte und Glaubwürdigkeit der Europäischen Gemeinschaft auf dem Spiel. Bis diese Forderung erfüllt ist, wird jedes weitere Wochenende, noch eines für Moria sein.
Quellen:
[1] https://www.tt.com/artikel/17812317/fluechtlinge-in-griechenland-zwischen-kaelte-krankheit-und-ungewissheit – 2.2021
[2] https://www.derstandard.at/story/2000122707937/libysche-fluechtlingslager-wo-das-elend-zu-hause-ist – 12.2020
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-02/jan-boehmermann-frontex-waffenlobby-treffen – 2.2021
[4] https://www.derstandard.at/story/2000119951484/gibt-es-den-pull-effekt?ref=rss – 11.2020
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1200132/umfrage/bereitschaft-zur-aufnahme-von-fluechtlingen-aus-griechenland-in-oesterreich/ – 2.2021
[6] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/kommunen-wollen-fluechtlinge-ausmittelmeer-und-griechenland-aufnhemen-100.html – 1.2020
[7] https://www.noen.at/in-ausland/aus-lesbos-innsbruck-will-weiterhin-jugendliche-aufnehmen-asyl-tirol-223657719 – 9.2020
[8] https://www.und-lieben.tirol/wochenende-f%C3%BCr-moria/ – 2.2021
Gastkommentar von Simon Graf
Er campiert seit vielen Wochen jeden Samstag und Sonntag vor dem Landestheater bei der Protest-Aktion „Wochenende für Moria“. Sein Text ist in der FREIRAD Programmzeitung 2021/02 erschienen und kann hier herunter geladen werden.
Alle sind willkommen sich zu beteiligen, komm vorbei, bringe dich kreativ ein und zeige deine Solidarität. Jedes Wochenende von Samstag 10 Uhr bis Sonntag 17 Uhr vor dem Landestheater in Innsbruck.
www.und-lieben.tirol
www.facebook.com/WE4MORIA
#WochenendeFürMoria
HÖRTIPPS ZUM THEMA
Interview mit Aktivist*innen „Ein Wochenende für Moria“
„Hallo Welt, hier bin ich“