Üblicherweise sollten sich Ärzte bemühen, Patienten, die sich ihnen anvertraut haben oder ihnen anvertraut wurden, zu verstehen. Tatsächlich sind es die Kranken, die sich in ihre Ärzte hineindenken. Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten“ illustrieren das sehr gut. Nicht Flechsig hat sich in Schreber, Schreber hat sich in Flechsig und viele andere hineingedacht.
So betrachtet erweist sich seine üppige Theologie ganz diesseitig und höchst konkret. Die unermesslichen Tiefen des Alls, in die sich Gott zurückziehe oder zurückzuziehen drohe, von Schreber wiederholt erwähnt, reichten in Wirklichkeit nicht über den Anstaltshorizont hinaus. Nur wenige Gehminuten trennten Schreber in den Anstalten von Gott. Schreber war tatsächlich bemüht, Flechsig und Weber zu verstehen, suchte er doch ihre „geprüften Seelen“ herunterzuziehen und in sich aufzusaugen. Die beiden gingen schließlich in ihm auf. Er begann die Welt, sich selbst, mit ihren Augen zu sehen. Seine Bilderwelt trägt demenstprechend Flechsig’sche und Weber’sche Züge. Sie prägten sein Gottesbild. Der Schreber’sche Gott kennt keine Erfahrungen, kann nichts lernen. Vor allem ist er blind. Um die Welt, all das von ihm ins Werk Gesetzte zu sehen, bedarf er der Augen eines lebenden Menschen, der Augen Schrebers. Aus seinen Augen schaut Gott hervor.
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Schrebers Theologie erweist sich bei genauerer Betrachtung als Anstaltstheologie. Es ist bemerkenswert, wie Schreber die erlebte Gewalt mit Hilfe eines religiösen Deutungsrahmens zu verarbeiten suchte. So betrachtet gibt seine Theologie mehr Auskunft über Anstalten als über sein Innenleben. Mögen Bilder und Verarbeitungsweisen noch so verschieden sein, ähnliches ließe sich für viele Opfer von Gewaltsystemen sagen, wird aber nur selten so betrachtet. Und nicht zufällig nahm Schreber am Ende die ihm zugedachte Rolle ein, nämlich die einer lebenden Leiche.
Eine Sendung von Hermann Leitner
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